Umgang mit sexualisierter Gewalt

Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens informierte am 4. Dezember 2021 über Fälle sexualisierter Gewalt, welche sich in den 1960er und 1970er Jahren im Kirchenbezirk Chemnitz ereignet haben:

„Vier dem Landeskirchenamt namentlich bekannte Betroffene berichten von wiederholten Übergriffen in ihrer Jugendzeit. Als Täter benennen sie Kurt Ströer, der von 1956 bis 1986 als Jugendwart im damaligen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) für die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens gearbeitet hat. Kurt Ströer war Moritzburger Diakon und ist 2013 im Alter von 91 Jahren verstorben.“ Hier weiterlesen…

Angesichts des Leids der Betroffenen ist der Ev.-Luth. Kirchenbezirk Chemnitz ebenso wie die Landeskirche daran interessiert, Straftaten, die in seinem Verantwortungsbereich liegen, aufzuklären. Die Leitung dieses Prozesses obliegt dem Landeskirchenamt. Darum bitten wir Sie, sich in allen Belangen diesbezüglich direkt an das Landeskirchenamt zu wenden. Kontakt

Ansprech- und Meldestelle für Fälle sexualisierter Gewalt:

Ev.-Luth. Landeskirchenamt Sachsens
Frau Kathrin Wallrabe
Lukasstraße 6, 01069 Dresden
Tel.: 0351 4692-106 oder 0351 4692-109
E-Mail: Kathrin.Wallrabe@evlks.de


Zu den Fällen sexuellen Missbauchs durch den ehemaligen Chemnitzer Jugendwart Kurt Ströer – Stellungnahme des Superintendenten vom Mai 2022

Kann ein Mann, durch den viele Menschen zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, ein Sexualstraftäter sein? Ja, er kann: Kurt Ströer (1921–2013), der langjährige Jugendwart im Kirchenbezirk Chemnitz, war ein solcher Mann – so unglaubwürdig das auch für viele, die ihn kannten, immer noch erscheinen mag. Bisher haben sich bei der Landeskirche dreißig Betroffene gemeldet, die in den sechziger bis achtziger Jahren als Jugendliche von Kurt Ströer sexuell missbraucht wurden. Wie viele sich noch melden werden, weiß derzeit niemand. Doch liegt die Dunkelziffer erfahrungsgemäß deutlich höher.

Angesichts der Aktenlage und nach Gesprächen mit Menschen, die Kurt Ströer kannten, vor allem aber nach Gesprächen mit Menschen, die durch ihn Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, bin ich persönlich entsetzt und beschämt zugleich. Und es stellen sich mir viele Fragen: Wie konnte so etwas über Jahrzehnte hinweg geschehen? Denn dass niemand etwas bemerkte, widerspricht jeglicher Lebenserfahrung. Oder war es vielmehr so, dass niemand etwas bemerken wollte – aus Angst oder Scham? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Situation der Kirche in der damaligen DDR? Warum hat niemand etwas gegen diese Untaten unternommen?

Es steht mir nicht zu, über den Menschen Kurt Ströer zu richten – das bleibt dem himmlischen Richter vorbehalten, vor dem wir einst alle stehen werden. Und als jemand, der ihn nicht persönlich gekannt hat, ist es nicht an mir, die Person Kurt Ströer zu verurteilen. Doch seine Taten verlangen nach einer Beurteilung: Was er anderen Menschen angetan hat, muss offen und ehrlich beim Namen genannt werden; es erfordert zudem eine gewissenhafte Aufarbeitung der damaligen Vorgänge durch externe Fachleute und angemessene innerkirchliche Konsequenzen mit dem Ziel, dass sich so etwas möglichst nicht wiederholt. Das sind wir den Menschen, denen von Kurt Ströer sexuelle Gewalt angetan wurde, und unserer Kirche schuldig.

Und schließlich muss aus meiner Sicht auch folgendes deutlich benannt werden: Die Inhalte von Kurt Ströers Verkündigung, so wie sie von Betroffenen, aber auch von vielen anderen im nachhinein beschrieben werden, lassen sich mit lutherisch-reformatorischer Theologie schwerlich in Einklang bringen. Denn weder sind die Themen Sexualität und Okkultismus, die Kurt Ströers Verkündigung bis in seelsorgerliche Einzelgespräche hinein maßgeblich bestimmten, die Mitte der Heiligen Schrift, noch kann sein moralisches Sünden-, Gesetzes- und Evangeliumsverständnis mit dem reformatorisch-theologischen Verständnis der Rechtfertigungslehre in Übereinstimmung gebracht werden.

Warum mache ich diese Feststellung? Weil Kurt Ströers zuweilen angstmachende und moralisch drohende Verkündigung unmittelbar mit seinen sexuellen Übergriffen verbunden war – Wort und Tat also bei ihm aufs engste miteinander verzahnt waren. Daher ist in diesem Zusammenhang nicht nur von körperlichem und seelischem, sondern auch von geistlichem Missbrauch die Rede.

Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Leute, deren Verkündigung theologisch von der lutherischen Rechtfertigungslehre abweicht, stärker als andere dazu neigen, Sexualdelikte zu begehen. Doch wirft die Verkündigung von Kurt Ströer grundsätzliche Fragen auf – und zwar nicht nur Fragen nach der theologischen Qualifizierung, sondern auch Fragen nach dem rechten Maß kirchenleitenden Handelns im Hinblick auf Art und Inhalt der Verkündigung hauptamtlicher Mitarbeiter.

Wenn wir – biblisch verstanden – als Angehörige der christliche Kirche den Leib Christi bilden und wenn dadurch die Leiden einzelner zugleich die Leiden aller sind (1. Korinther 12,26), so gehen diese Vorfälle uns alle etwas an. Daher hoffe ich inständig im Gebet, daß Wunden, auch wenn sie vor langer Zeit entstanden sind, mit Gottes Hilfe heilen, neue Verletzungen soweit wie möglich vermieden werden und dennoch die Fragen, die zu klären sind, geklärt werden können.

Superintendent Frank Manneschmidt